Dieses Buch hat noch gefehlt!

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Erlebnissberichte über die Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen gibt es viele. Hier liegt nun allerdings ein Bericht vor, der das Geschehen aus der Sicht eines Kindes schildert.

Gunter Nitsch floh siebenjährig mit seiner Familie aus Langendorf bei Schippenbeil. Er schildert in seinem Buch “Die lange Flucht aus Ostpreußen” die Geschichte seiner Familie, die auf ihrer Flucht nicht in den Westen gelangte, sondern von den Russen im später russischen Teil Ostpreußens verschleppt wurde. Ihre Flucht sollte erst 3 1/2 Jahre später enden.

Nitsch entführt uns zunächst auf das Gut seines geliebten Großvaters. Er beschwört eine heile Welt herauf, wo selbst ganze Armeen von Fliegen noch durch den Geruch von gebratenem Speck und Tilsiter Käse angelockt werden. Doch auch hier bricht eines Tages die ganze Gewalt des Krieges mit all seinen Folgen über die Familie herein. Und so müssen auch sie fliehen. Sie gelangen über das zugefrorene Haff nach Palmnicken, wo sie der russischen Armee in die Hände fallen und von Ihnen bis ins innere Ostpreußen auf eine Kolchose in der Nähe des Deimeflusses zur Zwangsarbeit deportiert werden.

Unter unmenschlichen Bedingungen müssen nicht nur die Erwachsenen arbeiten, auch die Kinder versuchen verzweifelt das Lebensnotwendigste zu “organisieren”. Das alles beherrschende Thema des Buches ist: wie kann ich überleben?

Erst als Jahre später die ersten Neusiedler dort eintreffen, werden die Deutschen nicht mehr gebraucht, und die Familie wird nach Ostberlin ausgewiesen. Von dort aus geht die Flucht weiter in den Westen.

Nitsch schreibt aus der besonderen Sicht eines Kindes, was ihm auch sprachlich sehr gut gelingt. Sein Buch liest sich stellenweise wie ein großer Abenteuerroman.

Kinder leben in der Regel im Hier und Jetzt. Und so schreibt Nitsch auch. Das alles beherrschende Thema, das ihn beschäftigt ist: wie kriege ich etwas zu essen? Wie ein roter Faden zieht sich dieser schmerzliche Hunger durch das ganze Buch.

Wir wissen wenig darüber, wie es nach dem Krieg im russischen Teil Ostpreußens war. Hier nun erfahren wir am Beispiel dieser Familie, wie es zumindest auf dem Land war. Das ist für mich das Besondere dieses Buches. Auch das meist harte, aber auch dann wieder gute Zusammenleben mit den russischen Neubürgern schildert er in diesem Buch sehr ausgewogen. Beiden Seiten gemeinsam war in der Regel, daß sie nichts hatten.

Ich (gebürtig aus Ostpreußen, Jahrgang `43) habe das Buch in 2 Tagen gelesen oder besser gesagt verschlungen, um es nach einigen Wochen noch einmal zu lesen. Und erneut hat es mich tief berührt. Ich glaube, die wenigsten Menschen machen sich eine Vorstellung davon, was Kinder damals ertragen mußten.

Ich kann das Buch nur wärmstens empfehlen.

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Gunter Nitsch

Eine lange Flucht aus Ostpreußen

Mit einem Vorwort von Arno Surminski

Ellert & Richter Verlag

April 2011

384 Seiten, 19,95 Euro

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Autor: Jenny Wennmacher
Datum: Dienstag, 17. Mai 2011 10:22
Trackback: Trackback-URL Themengebiet: Buchbesprechungen, Historisches, Königsberger Gebiet, Masuren, Menschen, Polnisches Gebiet

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Ein Kommentar

  1. 1

    Eine weitere Schilderung der Vertreibung aus Westpreußen aus der Sicht eines Kindes findet sich in der Autobiografie “Was bleibt, ist die Erinnerung” von Heinz Schwark.

    Leseprobe:
    Etwa Mitte Oktober 1945 – wir Kinder waren wieder unterwegs ins Dorf, um uns die Brotrationen zu holen – kamen uns am Ortseingang einige Frauen entgegen. Sie riefen aufgeregt: „Lauft schnell nach Hause! Wir müssen alle weg! Ihr werdet mit Pferdefuhrwerken abgeholt.“ Wie der Blitz rannten wir nach Hause, um allen Bescheid zu sagen. Die meisten Sachen waren ja bereits transportfertig, den Rest suchten wir in Windeseile zusammen. Bald darauf kamen die Polen mit ihren Pferdewagen. Sie staunten nicht schlecht, dass wir mit unseren Bündeln schon bereitstanden. Sie konnten ja nicht ahnen, dass wir schon informiert worden waren.
    Andere hatten weniger Glück. Unterwegs trafen wir viele Menschen, die nicht mehr bei sich hatten als die Kleider, die sie auf dem Leib trugen. Auch ein Verwandter war darunter: der Bruder meiner Großmutter. Er ging an zwei Stöcken und hatte es nicht einmal geschafft, sich richtige Schuhe anzuziehen. Seine Füße steckten in Filzpantoffeln, mit denen er kaum laufen konnte. Seiner Frau erging es ähnlich.
    Die Nacht verbrachten wir im Stieglitzer Gasthaus. Es war eng und stickig. Die Verzweiflung war groß.
    Ein Mann ging von Familie zu Familie und spendete uns tröstende Worte. Es war Pfarrer Reger, der aus dem KZ zurückgekehrt war.
    „Wie geht es euch?“, fragte er.
    „Ich habe schreckliche Kopfschmerzen“, antwortete ich. Der Pfarrer gab mir zwei Tabletten, die ich mit etwas Wasser hinunterspülte.
    Die Abendstunden in dem Gasthaus waren schrecklich. Unter den Flüchtlingen befanden sich zahlreiche Kleinkinder. Einige schrien und weinten die ganze Nacht. Es war der klagende Abschiedsgesang an die verlorene Heimat…
    Ich war froh, als die Tabletten schließlich wirkten und ich einschlafen konnte.
    (Herausgegeben von Rohnstock Biografien Berlin,
    http://www.rohnstock-biografien.de/)

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