Dieses Buch hat noch gefehlt!
Dienstag, 17. Mai 2011 10:22
Erlebnissberichte über die Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen gibt es viele. Hier liegt nun allerdings ein Bericht vor, der das Geschehen aus der Sicht eines Kindes schildert.
Gunter Nitsch floh siebenjährig mit seiner Familie aus Langendorf bei Schippenbeil. Er schildert in seinem Buch “Die lange Flucht aus Ostpreußen” die Geschichte seiner Familie, die auf ihrer Flucht nicht in den Westen gelangte, sondern von den Russen im später russischen Teil Ostpreußens verschleppt wurde. Ihre Flucht sollte erst 3 1/2 Jahre später enden.
Nitsch entführt uns zunächst auf das Gut seines geliebten Großvaters. Er beschwört eine heile Welt herauf, wo selbst ganze Armeen von Fliegen noch durch den Geruch von gebratenem Speck und Tilsiter Käse angelockt werden. Doch auch hier bricht eines Tages die ganze Gewalt des Krieges mit all seinen Folgen über die Familie herein. Und so müssen auch sie fliehen. Sie gelangen über das zugefrorene Haff nach Palmnicken, wo sie der russischen Armee in die Hände fallen und von Ihnen bis ins innere Ostpreußen auf eine Kolchose in der Nähe des Deimeflusses zur Zwangsarbeit deportiert werden.
Unter unmenschlichen Bedingungen müssen nicht nur die Erwachsenen arbeiten, auch die Kinder versuchen verzweifelt das Lebensnotwendigste zu “organisieren”. Das alles beherrschende Thema des Buches ist: wie kann ich überleben?
Erst als Jahre später die ersten Neusiedler dort eintreffen, werden die Deutschen nicht mehr gebraucht, und die Familie wird nach Ostberlin ausgewiesen. Von dort aus geht die Flucht weiter in den Westen.
Nitsch schreibt aus der besonderen Sicht eines Kindes, was ihm auch sprachlich sehr gut gelingt. Sein Buch liest sich stellenweise wie ein großer Abenteuerroman.
Kinder leben in der Regel im Hier und Jetzt. Und so schreibt Nitsch auch. Das alles beherrschende Thema, das ihn beschäftigt ist: wie kriege ich etwas zu essen? Wie ein roter Faden zieht sich dieser schmerzliche Hunger durch das ganze Buch.
Wir wissen wenig darüber, wie es nach dem Krieg im russischen Teil Ostpreußens war. Hier nun erfahren wir am Beispiel dieser Familie, wie es zumindest auf dem Land war. Das ist für mich das Besondere dieses Buches. Auch das meist harte, aber auch dann wieder gute Zusammenleben mit den russischen Neubürgern schildert er in diesem Buch sehr ausgewogen. Beiden Seiten gemeinsam war in der Regel, daß sie nichts hatten.
Ich (gebürtig aus Ostpreußen, Jahrgang `43) habe das Buch in 2 Tagen gelesen oder besser gesagt verschlungen, um es nach einigen Wochen noch einmal zu lesen. Und erneut hat es mich tief berührt. Ich glaube, die wenigsten Menschen machen sich eine Vorstellung davon, was Kinder damals ertragen mußten.
Ich kann das Buch nur wärmstens empfehlen.
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Gunter Nitsch
Eine lange Flucht aus Ostpreußen
Mit einem Vorwort von Arno Surminski
Ellert & Richter Verlag
April 2011
384 Seiten, 19,95 Euro
Thema: Buchbesprechungen, Historisches, Königsberger Gebiet, Masuren, Menschen, Polnisches Gebiet | Kommentare (1) | Autor: Jenny Wennmacher